Warum ich keine Hüftöffner mehr unterrichte
Bald nach Beginn meiner Yogalehrertätigkeit habe ich aufgehört zu zählen, wie viele Yogalehrerinnen und Schülerinnen mir beiläufig oder hilfesuchend erzählt haben, sie hätten Probleme im ISG-Bereich (= Iliosakralgelenk, der Bereich zwischen dem Kreuzbein [Sacrum] und den beiden Beckenschaufeln [Darmbein, Ilium]. Es waren viele, sehr viele. Wenn ich zu Beginn meiner Rücken-Workshops in die Runde frage, wo es denn zwicke, entfallen in der Regel 50% der Antworten auf jenen Bereich.
Ich selbst gehöre auch dazu, zur Gruppe der ISG-Geplagten. Wie es dazu kam? In einer meiner Ausbildungen gastierte ein international renommierter Ashtanga-Lehrer für ein Pranayama-Modul. Er bestand darauf, auch die Asana-Praxis in unserer Anusara-Ausbildung zu unterrichten. In einer tiefen sitzenden Vorbeuge (Pascimottansana) zurrte er mich mit Hilfe eines Gurtes, den er um die Rückseite meiner Oberschenkel und meinen Rücken legte, fest. Da war ich also, in der tiefsten Vorbeuge meines Lebens! Für einen kurzen Moment wähnte ich mich im Yogihimmel für Fortgeschrittene, als ich meine Stirn auf meinen Unterschenkeln ablegte. Wäre da nicht dieses intensive Brennen gewesen, das kurz darauf in meinem Iliosakralbereich auftrat. Die Stellung nahm einige Minuten in Anspruch. Selbständig konnte ich mich nicht befreien. Ebenso fehlte mir der Mut, um Hilfe zu rufen. Der Rest ist Geschichte. Was folgte waren Jahre des Schmerzes, die ich trotz intensiven Trainings und zahlloser, regelmäßiger manueller Eingriffe noch immer nicht ganz hinter mir gelassen habe. Ich bin eine von vielen.
Der Ursprung des Problems
Was dabei auffällt: Je „fortgeschrittener“ die Praxis der Menschen ist, je „beweglicher“ sie sind, desto mehr ISG- und Hüftgelenks-Probleme. Wie kommt das? Hat man uns nicht gesagt, wir sollten Yoga machen, es würde uns gut tun?
Die heute dominierende asanabasierte Yogapraxis hat viele Facetten und Spielarten hervorgebracht. Die meisten Yogastile teilen die Betonung von Stretching. Myofasziale Strukturen werden oft und lange (zudem meist passiv, d.h. ohne bewusste Muskelkontraktion) gedehnt. Wie oft fragen mich Teilnehmende, „wo genau sie das jetzt spüren“ sollten? In den Köpfen der meisten Menschen scheint die Idee zu bestehen, dass jede Yogahaltung irgendeine Art von Dehnung zu sein hat und dass man die Stellung nur „gut macht“, wenn’s irgendwo zieht. Ich freue ich sehr darauf, diesen Mythos im Rahmen dieses Blogs noch vielfach zu zerlegen.
Damit wir uns recht verstehen: Ich bin nicht per se gegen Dehnungen, sondern lediglich der Meinung, dass wir einen Großteil des Goldes der Praxis liegen lassen, wenn wir uns aufs bloße Stretching beschränken oder jenes übertreiben.
Sweet Open Hips
Natürlich macht die Idee des Dehnens und Loslassens nicht vor den sogenannten Hüftöffnern Halt. Ich habe Klassen besucht, die zu 80% aus (inneren und äußeren) Hüftöffnern bestanden. Es wird viel geächzt in diesen Stunden, wobei man ermuntert wird, tief in die engen Strukturen zu atmen und dann – du ahnst es – loszulassen! Diese Klassen tragen Namen wie „Sweet Happy Hips“, „Golden Hips“ oder „Open Your Hips“.
Die Hüfte möchte nicht geöffnet werden
Wer das Glück hatte, einmal einer anatomischen Sektion eines menschlichen Körpers beizuwohnen oder vielleicht die „Körperwelten“ Ausstellung besucht hat, dem dürfte klar geworden sein, dass die Hüftgelenke unfassbar gut von Muskeln, Sehnen und Bändern gesichert werden. In mehreren Schichten und aus verschiedenen Richtungen sich mehrfach überkreuzend sichern sie den Halt des Oberschenkelkopfes in der Hüftpfanne sowie sie Verbindung zwischen den beiden Hüftschaufeln. Ich sehe da Strukturen, die auf maximale Stabilität ausgelegt sind. Plakativ ausgedrückt: Die Hüfte möchte nicht geöffnet werden!
Stabiler Körperschwerpunkt
Der Mensch ist eine auf zwei Beinen aufrecht gehende Kreatur. Um das zu ermöglichen, musste die Evolution eine ganze Reihe Anpassungen vornehmen, u.a. musste sich das Becken um 90 Grad aufrichten, was die Spannungsfuge des Iliosakralgelenks unter ganz neue Belastung setzte. Beim gesunden aufrechten Gang liegt der Körperschwerpunkt auf Höhe des Beckens. Und dieser Schwerpunkt muss stabil sein, um gemeinsam mit der Wirbelsäule der Dynamik der sich bewegenden Arme und Beine eine stabile Achse entgegen zu setzen.
Hüft- und Rumpfstabilität sind also Voraussetzung für einen gesunden aufrechten Gang und für jede Form von Bewegung.
Was passiert in Hüftöffnern?
Bei den sogenannten Hüftöffnern im Yoga handelt es sich in der Regel um passive Dehnungen der Beininnenseite (Adduktoren und Hüftbeuger, = innere Hüftöffner) oder aber der Bein- und Hüftaußenseite (Gesäßmuskulatur, äußere Beinmuskulatur, = äußere Hüftöffner). Diese passiven Dehnungen – oft mehrere Atemzüge bis mehrere Minuten (z.B. im Yin Yoga) gehalten – ziehen und zerren an den komplexen, auf Halt und Stabilität getrimmten Strukturen, die unter dem Eindruck des Stretches langsam, aber sicher nachgeben. Grundsätzlich halten myofasziale Strukturen einer gewissen Dehnung stand und können anschließend wieder in ihren Ausgangszustand zurückkehren. Wer aber regelmäßig und langanhaltend passiv dehnt, dessen Gewebe erfährt den sogenannten Fascial Creep, eine langsame Deformation der Faszien.
Fascial Creep und Desensibilisierung
Diese langsame Verformung innerhalb der Faszienmatrix verändert das Gewebe nachhaltig. Die Faszie kann nicht mehr in ihre ursprüngliche Form zurückkehren, da sie ihre Fähigkeit zur elastischen Rückfederung (Recoil) verloren hat. Paradoxerweise führt genau das im Yoga zu noch mehr und noch intensiveren Dehnungen, denn je mehr man dehnt, desto mehr Dehnung braucht man über die Zeit, um überhaupt noch das Gefühl eines Stretches zu bekommen.
Muskeln, Bänder und Sehnen sind reichlich ausgestattet mit neuronalen Sensoren, die z.B. die Länge von Muskelfasern, die Intensität eines Zuges, die Kraft eines äußeren Eindrucks messen und dem Gehirn mitteilen. Gehen wir in der Dehnung zu weit, folgt in der Regel ein Schmerzreiz (Nocizeption), der uns vor drohender Verletzung warnt. Wer nun aber dauerhaft viel, intensiv und lange stretcht, desensibilisiert diese Sensoren. Sie schalten ab und stellen ihre Kommunikation mit dem zentralen Nervensystem ein. Nun muss man kein Mediziner sein, um zu erahnen, dass dies ein Prozess ist, in den man nicht eintreten möchte.
Was da passiert kann man auch als sukzessive Verschlechterung der Körperwahrnehmung und Körperbeherrschung beschreiben. Weil es langsam, über einen längeren Zeitraum hinweg passiert, fällt es aber meist nicht auf bzw. stellen Yogis die Verbindung zu ihrer Yogapraxis nicht her.
Gesundheitliche Folgen
Das klingt jetzt vielleicht alles noch sehr abstrakt. Doch was heißt das konkret für dein Leben und deine Gesundheit?
- Fasziale Strukturen, die einen Teil ihrer Funktion verloren haben, verkleben leichter und können Auslöser vielfältiger Schmerzsyndrome sein.
- Die Druck- und Zugverhältnisse rund um Hüft- und Iliosakralgelenke verändern sich, sodass Gelenke nicht mehr neutral und zentriert sind, sondern in eine ungünstige Position verschoben werden können. Das kann auf Dauer zu Knorpelschäden im Hüftgelenk und/ oder schmerzhaften Blockaden im ISG führen.
- Die Hüfte als Schwerpunkt des Körpers kann destabilisiert werden, was den Gang unsicherer und ineffizienter macht sowie andere Bewegungen einschränken kann. Ein unsicherer Gang erhöht zudem die Sturzgefahr.
- Ineffiziente Bewegungsmuster werden als anstrengender empfunden, was oft die Bewegungsfreude hemmt und indirekt zu weiteren gesundheitlichen Einschränkungen (z.B. durch Bewegungsmangel) führen kann.
- Eine instabile Hüfte kann innerhalb kinetischer Ketten, die den ganzen Körper durchziehen, sowohl aufwärts (Rücken, Schulter, Nacken, Kopf) als auch abwärts (Knie- und Fußgelenke) vielfältige Beschwerden machen, die sich nicht dort behandeln lassen, wo sie auftreten und zu einer echten Therapie-Odyssee führen können.
Was macht Hüft- und Iliosakralgelenke wirklich glücklich?
Sinnvoll wäre es, die Hüftgelenke und die Strukturen des Beckens möglichst stabil und funktional zu erhalten. Wer seinen Fuß hinter den Kopf klemmen kann, hat selten eine funktionale Hüfte, sondern einfach nur eine sehr große passive Beweglichkeit (In der Regel werden ja die Hände zur Hilfe genommen, um den Fuß hinter den Kopf zu bringen.)
Was macht also wirklich „Sweet Happy Hips?“
- Führe Hüftöffner nicht passiv, sondern aktiv aus, z.B. in der Taube durch Druck der Knie nach unten das Becken aktiv vom Boden weg heben, anstatt das Becken mit der Schwerkraft „schmelzen“ zu lassen. Oder in allen Varianten von Figure 4 (Nadelöhr, Eka Pada Hindolasana) sowie inneren Hüftöffnern den Knöchel aktiv aufs Knie drücken bzw. die Hand in Fuß schieben (z.B. Happy Baby). Anders ausgedrückt: die Muskulatur aktivieren anstatt loszulassen.
- Trainiere bewusst Hüftstabiliät (z.B. schrittweise neue Herausforderungen in Stand- und Balance-Haltungen einführen).
- Trainiere deine Hüftfunktion bzw. aktive Bewegungskontrolle durch den gesamten Bewegungsspielraum des Hüftgelenkes, z.B. mit CARs (Controlled Articulate Rotation) und FRC (Functional Range Conditioning).
- Integriere weitere Sportarten / Bewegungsformen in deine Routine. Für Yogis empfehle ich grundsätzlich Krafttraining als ergänzende Praxis.
- Bei bestehenden ISG-Beschwerden meide tiefe Vorbeugen bzw. nimm jeden Ehrgeiz aus der Vorbeuge heraus. Spürst du ein Brennen oder Stechen, sofort raus da! Besser, du lässt es gar nicht erst dazu kommen.
Mit mehr Wissen zu einer gesünderen Praxis finden
Nun habe ich in diesem Beitrag das Thema Hüftöffner einmal auf links gedreht. Mir geht es in erster Linie darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Yoga nicht per se und in jeder Form für jedermann gesund ist und dass sich tatsächlich viele Ausdrucksformen der Asanapraxis etabliert haben, die nicht zu einem gesünderen, stabileren, robusteren Körper beitragen, sondern uns heimlich, still und leise schwächer, verletzungsanfälliger und weniger bewegungskompetent machen. Der Formenkreis der Hüftöffner steht definitiv an erster Stelle der heimlichen Gefährder.
Heißt das, du solltest nie wieder einen Hüftöffner praktizieren? Nein, je nachdem, wie und was du sonst übst, kann der eine oder andere Hüftöffner achtsam ohne Ehrgeiz ausgeführt, durchaus mal hilfreich und entlastend sein. Deine Asanapraxis sollte nur nicht vordergründig um Hüftöffner und passive Dehnungen kreisen.
Wer einmal verstanden hat, wie der Körper funktioniert, was er braucht und wieso das so ist, kann für sich klügere Entscheidungen treffen. Wissen ist Macht. Und es führt zu einer gesünderen, nachhaltigeren Yogapraxis, die vielleicht nicht instagramtauglich ist, aber dazu beiträgt, dass du Fähigkeiten, die wirklich wichtig sind, ausbaust, anstatt sie über die Jahre schleichend zu verlieren.
Du möchtest diese Art der Yogapraxis erlernen? Dann bist du bei uns in den Anusara- und Functional Yoga-Klassen goldrichtig. Mareikes Flow-Klassen sind darüber hinaus eine tolle Gelegenheit, deine dynamische Stabilität in fließenden Bewegungen zu schulen. Guidos Pilatesklassen sorgen für eine stabile Körpermitte und unterstützen so deine Kraft und Haltung.